27.11.2013 - Kungyang Chhish East - Der Bericht
Simon Anthamatten, Zermatt, November 2013
 
Kungyang Chish East Erstbesteigung
 
2003 wurde ich zum ersten Mal auf den Kungyang Chhish East aufmerksam, oder besser gesagt auf seine über zweieinhalb Kilometer hohe Südostwand. Einpolnisches Team hat es in vier Tagen bis auf eine Höhe von 6700m Meter gebracht und das Beste war, der Berg war unbestiegen! Dann habe ich das Bild kopiert und in meinem Ordner ‚Projekte’ abgespeichert.
 
Im September 2006 sind die zwei Amerikaner Steve House und Vince Anderson drei hundert Meter unter dem Gipfel umgedreht. Dieses starke Team konnte 2005 eine neue Route durch das Rupal Face des Nanga Parpat etablieren. Dass ein so kompetentes Team knapp unter dem Gipfel eines unbestiegenen Berges abgeschüttelt wird, weckt natürlich die Motivation anderer. Drei weitere Expeditionen bissen sich in den kommenden Jahren die Zähne an diesem Projekt aus. Eine japanische Expedition um Kei Taniguchi, Rafael Slawinski mit seiner kanadischen Einheit und der sehr starke Valery Babanov mit einem kanadischen Freund. Babanov ist erst gar nicht eingestiegen auf seiner Internetseite schrieb er: ‚Unfortunately, our expedition is over. We did not even start to climb Kungyang Chhish because my partner was psychologically unready for it. Jeder fehlgeschlagene Versuch an solch einem Berg motiviert wieder andere Bergsteiger.
 
Zehn Jahre ging es, bis ich das abgespeicherte Bild des Kungyang Chhish East wieder hervorgeholt habe. Ich sass in der gemütlichen Stube der Familie Auer im Ötztal. Neben mir Hansjörg Auer und am warmen Giltsteinofen Matthias Auer. Es gab Kaffee, Speck aus der eigenen Selche, Butter von der eigenen Milch, Honig selbst geschleudert und ich glaube nicht, dass das Brot vom Bäcker war. Hansjörg habe ich per Zufall im Yosemite und in Kalymnos getroffen. Mit seiner Solobegehung des Fisches 2007 an der Marmolada, hat er gezeigt zu was er fähig ist. Matthias kannte ich vom Matterhorn, wo er ab und zu als Bergführer unterwegs war. Einmal hat er die Matterhorn Nordwand solo geklettert, danach habe ich ihn am Führertisch der Hörnlihütte gefragt, wie lange er denn gebraucht habe. Etwa vier Stunden, war seine nüchtere Antwort. Da er sich noch versteigen hat und zwei Mal abseilen musste, habe ich erst im Nachhinein von ihm erfahren. Der Abend dauerte noch lange, wir diskutieren über viele ferne Länder und Berge und kamen zum Schluss, nächstes Jahr versuchen wir uns am unbesteigenen Kungyang Chhish East.
 
Ein halbes Jahr später sitzen Hansjörg und ich im Flieger nach Islamabad. Matthias blieb zu Hause. Die Expedition hat sehr schlecht begonnen. Zuerst mussten wir unseren Abflug um fünf Tage verschieben. Auch nach dem dritten Besuch in der Pakistanischen Botschaft in Bern hatte ich noch kein Visa in meinem Pass. Endlich – nach langem Hin und Her bekam ich den Fackel. Fünf Minuten später meldete sich, Hansjörg bei mir, dass sich Matthias fünf Millimeters seines Daumes mit einer Kreissäge abgeschnitten hat. Das war schon das zweite Stück Finger, dass sich der gelernte Schreiner abtrennte. Auch Handwerker haben ein gewisses Berufsrisiko nicht nur Bergsteiger und Bergführer! Wir haben uns entschieden trotzdem abzureisen.
 
Eine Woche später waren wir mit 30 Träger Richtung Basislager unterwegs. Die Landschaft und die Leute haben mich zu tiefst beeindruckt. Es war kein Vergleich mit den Orten in Indien und Nepal die ich bereits besucht habe. Das Karakorum ist ein Wüstegebirge. Alles ist karg und arid. Doch wo der Boden bewässert wird, spriessen Gräser und blühen Aprikosenbäume. Der Karakorum Highway schlängelt sich um den Sockel des 7800 Meter hohen Rakaposhi. Wenn man aus dem Auto aussteigt, und nach oben blickt, hat man Mühe die sechstausend Höhenmeter Berg richtig zu skalieren. Wir fuhren an Baracken vorbei mit Aufschriften wie ‚ Down with USA!’. Aus unseren Recherchen wussten wir, dass das Verhandeln mit den Trägern nicht einfach wird da in diesem Gebiet Pakistans die Preise für die Lasten nicht geregelt waren, wie zum Beispiel im besser erschlossenen Baltoro-Gebiet. Wir spielten auf Zeit und liessen die Träger streiten. Irgendwann kam es auch Ihnen zu blöd und der ganze Tross setzte sich wieder in Bewegung. Nach einer haarsträubenden Jeepfahrt  und zwei Tagesmärschen erreichten die Träger unser Basislager. Hansjörg und ich sind bereits in ein kleines Seitental geeilt um uns anzuklimatisieren, denn das Wetter war wunderschön. Voller Tatendrang stiegen wir die Flanken eines Sechstausenders hoch. Wir wussten, um die gängigen Akklimatisationstechniken Bescheid, doch unsere Motivation war der Einsicht wieder Mal überlegen. So kam es, dass wir viel zu hoch stiegen und keinen flachen Biwakplatz fanden. Als wir dann endlich ein Plätzchen entdeckten, waren wir schon 1400 Meter höher, als die vorherige Nacht. Bei der Traverse zum Biwakplatz bin ich dann noch drei Meter in den Bergschrund gefallen. Hansjörg rechnete schon mit dem Schlimmsten, als ich nicht mehr neben ihm stand. In der Nacht haben wir die Höhe zu spüren bekommen. Am nächsten Tag waren wir zum Abstieg gezwungen. Wir konnten es nicht glauben, dass wir trotz unserer Erfahrung so viele Anfängerfehler gemacht haben. Niedergeschlagen folgten wir dem Pfad der Jaks und Träger Richtung Basislager. Bis dahin, haben wir unser eigentliches Ziel den Kungyang Chhish East noch gar nicht gesehen. Als wir vom Haupttal Richtung Basislager abbogen, erblickten wir zum ersten Mal den wolkenverhangenen Granitkoloss. Wir blieben stehen und Hansjörg meinte: ‚Ma! Isch das a Viech!!!’ Der Gipfel war noch in den Wolken und man konnte noch nicht die ganze Grösse der Wand ausmachen erst als wir weiter gelaufen sind haben sich die Nebelfetzen gelichtet und dann kam der ‚richtige’ Gipfel zum Vorschein. Dann sind wir einfach nur stehen geblieben und haben nichts mehr gesagt. Angesichts der Mächtigkeit der Wand und unserer kläglich gescheiterten Akklimatisationstour machten wir uns mit geducktem Gemüt schleunigst auf den Weg zum Basislager. Wir wussten, dass wir ab jetzt keine Dummheiten mehr anstellen dürfen. Unser Koch und unser Guide hatten bereits das Basislager aufgestellt und empfingen uns mit einem schmunzeln auf den Lippen. Die grossen Alpinisten waren auf einmal ganz klein.
 
Doch nichts desto trotz haben wir unsere Akklimatisationsphase fortgefahren und siehe da es ging immer besser. Endlich erreichten uns auch gute Nachrichten von zu Hause. Der Daumen von Matthias heilte schneller als gedacht. Er entschied sich nach Pakistan nachzureisen. Zehn Tage nach unserer Ankunft im Basislager erreichte uns auch Matthias. Doch alle drei wussten wir, dass er einen Akklimatisationsrückstand hat und diesen auch kaum mehr aufholen wird. Nach ein paar unstabilen Tagen zeichnete sich ein sonniges Wetterfenster an. Hansjörg und ich nutzten die Tage um den 6300 Meter hohen Ice Cake Peak zu besteigen, dies war der einzige halbwegs leichte Berg im Umkreis des Kungyang Chhish Massivs. Zwei Tage verbrachten wir in der Gipfelregion und konnten immer wieder wertvolle Blicke in die benachbarte Südostwand des Kungyang Chhish East werfen. Die Linie, die Steve House versucht hat, war die leichteste am ganzen Berg um den Gipfel zu erreichen. Wir entschieden uns die gleiche Route zu versuchen.

Als wir zurück im Basislager waren, füllten wir unsere Speicher wieder mit dem mitgebrachten Speck aus dem Ötztal. Während wir auf dem Ice Cake waren, hat sich Matthias auf einem niedrigen angrenzenden Grat akklimatisiert. Das Schönwetterfenster hielt immer noch an, doch wir waren noch müde von der Akklimatisation. Should I stay or should I go now? Heisst ein bekannter Titel der Rockband ‚The Clash’. Als Kletterer steht man immer wieder vor dieser Frage: Soll ich gehen oder nicht? And if I go it will be ... Double oder Trouble. Double bedeutet in diesem Sinne der Gipfel und Trouble ist soweit selbsterklärend. Vier Tage später waren wir in Trouble. In drei Tagen sind wir bis auf 6950 Meter geklettert. Eine 800 Meter hohe Schneeflanke führt zu einem gewaltigen Serac von dort erreichten wir in ca. 15 Längen unser erstes Biwak auf 5900 Meter. Am nächsten Tag stiegen wir hoch zum gewaltigen Felspfeiler in nochmals 15 Seillängen. Viele blanke Eispassagen passierten wir. Auf 70 Grad steilem Eis traversierten wir etwa hundert Meter nach rechts und seilten dann sechzig Meter ab. Die nächsten 15 Längen kletterten wir gerade empor in Mixedgelände wie es in Chamonix anzutreffen ist, herrlicher Granit und griffiges Eis. Doch wir wurden immer langsamer durch die zunehmende Höhe und die anhaltende Anstrengung. Wir kletterten Seillängen in Wechselführung. Abends erreichten wir eine Schneeschulter auf 6600 Meter. Das war der erste Moment nach zwei Tagen klettern, als wir wieder mal flachen Boden unter den Füssen hatten. Auf dieser Schneeschulter richteten wir unser zweites Biwak ein. Die Schneeschulter zog etwa hundert Meter hoch zur Wand die zum Gipfelgrat führte. Diese hundert Meter sind die einzigen Meter des ganzen Aufstiegs welche man einfach so gehen konnte ohne zu klettern. Doch hier sammelte sich der Schnee und das Spuren begann. Am nächsten Tag kletterten wir in 7 Seillängen durch die Wand zum Schneegrat. Diesem steilen Schneegrat folgend, erreichten wir einen kleinen Biwakplatz im Schutze eines kleinen Felsüberhanges. Das Wetter war immer noch gut und wir hatten den Gipfel vor den Augen. Hundert Meter über uns ragte die Felsstufe aus dem Grat, an welcher House und Anderson umgedreht sind. Wir waren uns ziemlich sicher, dass wir Morgen diesen Felsvorsprung knacken und uns weiter Richtung Gipfel empor arbeiten. Beide vergruben wir uns tief in unseren Schlafsäcken und wussten, wenn wir es packen, sind wir in einer Woche zu Hause und trinken Kaffe, essen Speck, tragen Flipflops und gehen Sportklettern. Oh wunderbares Sportklettern!!! In der Nacht weckte uns ein starker Wind. Das Wetterfenster war zu Ende. Neun Tage war es schön. Jetzt sind wir 400 Meter unter dem Gipfel und das Wetter schlägt um. Warum mussten wir die Flüge verschieben?! Der Wind blies immer stärker und es fing an zu schneien. Wir zogen unsere Ausrüstung an, da wir Angst hatten, dass das Zelt zerreisen könnte. Innerhalb weniger Minuten wurde uns bewusst, dass wir nicht mehr dem versäumten Gipfel nachtrauern dürfen sondern uns vollends auf die Abseilmanöver konzentrieren müssen, wenn wir das hier überleben wollen. Nach etwa vierzig Längen abseilen querten wir zur Einstiegsschneeflanke. Seilten dort weiter ab und kletterten die Hälfte der Flanke rückwärts runter. Nach einem ganzen Tag Schinderei erreichten wir den Wandfuss, wo uns Matthias mit Cola erwartet. Wir waren alle froh einander wieder zu sehen. Erneut erreichten wir das Basislager wie geschlagene Hunde.
  
Langsam erholten wir uns im Basislager. Zum Glück war das Wetter für ein paar Tage schlecht. Als Alpinist fängt man an das schlechte Wetter zu mögen. Man ‚muss’ nicht gehen. Man kann sich mit gutem Gewissen die Zeit vertreiben. Aber in diesem Falle, nagte einfach dieser riesige Berg an unseren Nerven. Man genoss den Zeitvertreib mit Poker spielen, wandern oder einfach Musik hören. Aber immer ist er da dieser riesige Berg, den man praktisch schon bestiegen hat. Aber eben doch nicht. Etwa vierhundert Höhenmeter fehlten und wir wären zu Hause bei unseren Liebsten.

Früh morgens erreichte uns ein Anruf einer französischen Expedition die sicht fünfzig Kilometer von uns entfernt an einem anderen Berg versuchte. Es war die einzige Expedition in unserer Nähe.
Sie sagten uns, es hatte ein Anschlag auf das Basecamp des Nanga Parbat gegeben. Wir meldeten uns direkt bei unseren Angehörigen zu Hause. Wir teilten ihnen mit, dass es uns gut geht. 11 Bergsteiger wurden auf brutalste Weise hingerichtet und dies nicht weniger als 120 Kilometer entfernt von uns. Dass wir nicht gerade in das sicherste Land der Welt reisten wussten wir, aber das wir genau zum Zeitpunkt dieses Anschlags dort waren, stimmte uns nachdenklich und traurig. Doch wir konnten an der Situation nichts ändern.

Nach fünf Tagen zeichnete sich wieder eine Wetterbesserung ab. Hansjörg und ich waren optimal akklimatisiert vom ersten Versuch. Aber Matthias hatte nun noch einen grösseren Rückstand auf unsere Akklimatisation. Natürlich wollte er auch mit an den Berg. Aber das ging nicht. Hansjörg und ich entschieden einen weiteren Versuch zu starten. Wir wollten auf keinen Fall wieder einen Versuch machen, indem wir am Ende der Schönwetterperiode hoch oben vom Schlechtwetter eingeholt werden. Unsere Taktik war einfach, wir starten bei suboptimalen Bedingungen und werden dann im stabilen Wetter im Gipfelbereich sein. Falsch gedacht! Wir versanken förmlich im Schnee. Kleine Schneerutsche sausten an uns vorbei, als wir die 800 Meter Flanke hochstiegen. Aus Kleinen wurden Mittlere und aus unserem Versuch wurde nichts. Wir kamen bis 5900m und stiegen direkt wieder ab. Wie hervorgesagt kam das schöne Wetter und wir sassen müde im Basecamp. Als unser Koch uns den obligaten Lavazza-Kaffe zum Frühstück servierte, fragte er uns, warum wir den immer im schlechten Wetter bergsteigen gehen? Er würde uns vorschlagen den nächsten Versuch bei gutem Wetter zu machen. Die Tschappati blieben uns fast im Hals stecken. Aber Ashraf hatte Recht. Wir waren zu ungeduldig. Bei einer Wand von mehr als zweieinhalb Kilometer Höhe muss man so lange warten, bis am Einstieg die Verhältnisse wieder schlecht werden und im Gipfelbereich noch schlecht sind. Hat man dann noch immer gutes Wetter, kann man einen Versuch wagen, ansonsten hat man keine Chance. Es wurde uns mehr und mehr Bewusst wie erfolgreich unser erste Versuch war. Desto grösser wuchs der Druck für den nächsten Versuch. Wir waren bereits einen Monat in unserem 4200 Meter hohen Basislager und eines war klar, es gab nur noch einen Pfeil im Köcher.

Die Akklimatisationsdifferenz in unserem Team ärgerte mich und verbesserte nicht gerade die angespannte Stimmung. Schliesslich sind wir Kletterer und alles was wir wollen, ist dieses Monster erstbesteigen. Koste was es wolle, ausser das Leben! Ein weiteres Mal stieg ich mit Matthias auf den Ice Cake. Meine Motivation stürzte ins Bodenlose. Ich ärgerte mich. Schliesslich hat sich Matthias den Finger selbst abgeschnitten und ich muss jetzt ein weiteres Mal hoch auf diesen Ice Cake, damit er auch mal über 6000 Meter schlief. Als wir ins Basislager zurückkamen, beruhigte ich mich und wir wussten beim nächsten Versuch sind wir zu Dritt. Wir hatten noch drei Wochen Zeit. Doch vorerst kam ein Kaltfront und brachte 20 Zentimeter Schnee im Basislager. Das Wetter besserte sich kaum. Zehn lange Tage warteten wir im Basecamp, dass wir vor drei Wochen beinahe oben waren, zerrte an unserer Motivation.

Am 14.Juli starteten wir unseren letzten Versuch. Zu Dritt. Ein 60 Meter Halbseil, eine 60 Meter Reepschnur, fünf Camalots, fünf Keile, fünf Eisschrauben, einen Kocher, ein Zweimannzelt, jeder einen Schlafsack, vier Gaskartuschen und Essen für vier Tage. Wir kamen auf  14 Kilogramm Rucksackgewicht pro Person. Eine grosse Schwierigkeit war das Finden der Biwakplätze. Beim ersten Versuch waren wir nur zu Zweit. Beim ersten Lager, haben wir in mühsamer Arbeit eine kleine Plattform aus einem Eisgrat gehakt. Dort konnten wir unser Zelt aufstellen oder besser gesagt anhängen. Hansjörg lag an der Wand ich auf dem Rest der Plattform und meine Füsse hingen im Zelt, dass zur Hälfte über die Plattform runter hing. Nun waren wir aber zu Dritt in diesem kleinen Zelt und wir benötigten auf jeden Fall zwei Flache Quadratmeter. Wie schon in der Südwand des Jasemba 2009 schnitt ich die Schneehaube eines Schneepilzes ab. Dies generierte einen flachen Zeltplatz auf dem unser Zelt exakt Platz fand. Dies war der exponierteste Zeltplatz den ich je gesehen hatte. Das Zelt hing auf beiden Seiten zehn Zentimeter über die kannte des Schneepilzes. Da wir zu Dritt in einem Zweierzelt übernachteten, gab es nicht viel Bewegungsfreiheit. Auf die Frage wo die Trinkflasche liege, antwortete Hansjörg: Die hängt im Abgrund!

Am zweiten Tag kamen wir wieder gut voran. Hansjörg und ich führten wieder die selben Eis- und Mixedlängen. Am späten Nachmittag erreichten wir wieder die Schneeschulter auf 6600m. Während dem Tag wurde es jedoch wieder bedeckt und es fing zu schneien an. Gabl, unser Wetterspezialist aus Innsbruck, bestätigte uns, dass der Himmel früher oder später wieder aufmacht. Aus dem kleinen vorhergesagten Niederschlag wurde jedoch mehr. Als wir erwachten, war unser Zelt fast restlos eingeschneit. Da lagen wir nun auf 6600m im dichten Schneetreiben und Wind in der Mausefalle. 30 Mal abseilen und dann wieder die 800 Meter Flanke abklettern, das wäre die einzige Rückzugsmöglichkeit gewesen. Denn auf der anderen Seite der Schneeschulter fällt der Berg auch 1500 Meter in einem wahren Labyrinth  zwischen kleinen Bigwalls und Seracs auf den Gletscher. Wir entschieden uns trotz des schlechten Wetters hundert Meter weiter aufzusteigen. Vom ersten Versuch wussten wir, dass wir dort in einem Bergschrund eventuell Schutz finden konnten vor Wind und Wetter. Es war nur ein kleiner Bergschrund, über dem sich die Wand wieder aufstellte. Mit ein bisschen graben konnten wir aber in diese Spalte reinkriechen und siehe da, in etwa fünf Meter Tiefe gab es so etwas wie eine Fläche, wo wir unser Zelt aufstellen konnten. Eigentlich haben wir mit dem Gedanken gespielt, in einem Tag von 6600 auf den Gipfel zu gehen. Doch in diesem Wind und Schneefall war ein weiterkommen hoffnungslos. Wir entschieden uns oder besser gesagt, wir hatten keine andere Wahl und verharrten in dem Bergschrund auf 6700 Meter. Wir wussten, dass das Wetter irgendwann besser wird. Wir warteten den ganzen Tag und hofften, dass es am nächsten Tag aufreist. In unserer Eishöhle war es windstill und wir konnten uns mehr schlecht als recht erholen. Früh am vierten Tag krochen wir wieder wie die Murmeltiere aus unserer Höhle um dass Wetter auszumachen. Doch jeder Späher kam mit dem selben Gesichtsausdruck zurück. Das warten zerrte brutal an unseren Nerven. In dem kleinen kalten Zelt wurde es auch nicht gemütlicher. Am Abend des fünften Tages beschlossen wir, dass wir am nächsten Morgen aufbrechen. Bei schönem Wetter Richtung Gipfel. Im Sturm Richtung Abgrund. Wir konnten nicht mehr länger warten.

Wie erhofft, sanken die Höhenmesser über Nacht. Die Augen des Bergsteigers der Irgendwo an einem unbestiegenen 7000er im Karakorum seinen kleinen Kopf aus einem Schneeloch hob, erblickten an diesem Tag in weiter Ferne die Silhouetten unzähliger anderer gigantischer Berge, im Hintergrund der tiefblaue Himmel, in welchem die letzten Sterne zu erlöschen schienen. Der Morgen war bitter kalt. Oft mussten wir anhalten um unsere Hände oder Füsse zu bewegen, damit sie besser durchblutet werden. Vom Bergschrund kletterten wir sieben Seillängen bis zu einem Schneegrat. Den Schneegrat hoch an unserem letzten Biwakplatz vorbei bis zu dem Felsvorsprung, an dem House und Anderson umgedreht sind. Bereits bei unseren Akklimatisationstouren haben wir beobachtet, dass es eventuell eine Variante weiter rechts gibt um diesen ungefähr 50 Meter Hohen Felszahn zu umgehen. So war es dann glücklicherweise auch. Wir folgten weiter diesem Schneegrat, der rechtwinklig zum Gipfelgrat führte. Als wir den Felszahn umgehen konnten, wussten wir, ab jetzt sind wir auf Neuland unterwegs. Insgeheim hofften wir, dass es keine Überraschungen mehr geben wird. Der Himmel war stahlblau. Es wehte ein mässiger Wind. Aus dem umliegenden Nebelmehr stachen nur die mächtigsten Berge dieser Erde: Kanjut Sar, K2, Broad Peak, Gasherbrums, Latok, Ogre, Masherbrum, Nanga Parpat und Rakaposhi waren ersichtlich. Der Gipfelgrat war auf der linken Seite felsig und rechts verwächtet. Erst als wir zurückblickten, erkannten wir die wahren Dimensionen der Wächten. Oftmals hingen sie über dreissig Meter über. Nach drei längen auf  dem Grat standen wir auf einem kleinen Vorgipfel. Von diesem Punkt aus erkannten wir, dass wir es zum Gipfel schaffen werden. Von diesem Zeitpunkt an konnten wir das Leiden in vollen Zügen geniessen. Jetzt kann einfach nichts mehr schief gehen. Wir werden den unbestiegenen Gipfel erreichen.

Mehr als eine Stunde später, etwa 12 Uhr standen wir alle auf dem Gipfel des Kungyang Chhish East. Freudentränen und Freudenschreie wechselten sich ab. Wir waren überwältigt von der Aussicht und davon, dass wir es wirklich geschafft haben. Insgeheim wollte jeder von uns an verschiedenen Punkten der Expedition aufgeben. Aber dies wurde nie ausgesprochen und somit hat uns der Teamgeist bis zu diesem Punkt getrieben. Nach den obligaten Fotos stiegen wir bald wieder ab bis zum Vorgipfel. Von dort mussten wir wieder abseilen. Noch vor Einbruch der Dunkelheit sassen wir wieder in unserem Zelt in der Spalte auf 6600 Meter. Am sechsten Tag folgten wieder 40 Abseilmanöver. Dank den Eissanduhren, in denen wir direkt unser Seil einzogen, hinterliessen wir kaum Stände in der Wand. Wir waren heilfroh noch am selben Tag den Wandfuss zu erreichen. Im dunkeln torkelten wir Richtung Basislager. Noch auf dem Gletscher empfingen uns unser Koch Ashraf und unser Guide Shukur mit Biscuit und Cola.
Wir verweilten noch zwei Tage im Basislager um diesen gewaltigen Berg zu geniessen. Als die Träger die Lasten hochstemmten und losmarschierten, blieben wir noch eine ganze Weile in unserer Wiese liegen. Rauchten jeder eine Zigarette, welche wir den Trägern abluchsten. Dann schulterten auch wir unsere Rucksäcke und es kehrte wieder Stille ein auf der kleinen Wiese unter halb des mächtigen Kungyang Chhish.
 
Fakten:
Gipfelhöhe: 7400m
Wandhöhe: 2700m
Exposition der Wand: Südost
Team: Simon Anthamatten (SUI), Matthias Auer (AUT), Hansjörg Auer (AUT)
Erstbegehung: 14.7 bis 18.7.2013
Versuche: 25.6 bis 28.6.2013bis 7000m durch Simon and Hansjörg
2.7.2013 bis 5600m durch Simon and Hansjörg
Zeit im Basislager:  12.6 bis 21.7.2013
Zeit der Expedition: 5.6 bis 25.7.2013

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